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In the Media | September 2013

Der Prophet der Instabilität

Mark Dittli
Finanz und Wirtschaft, September 30, 2013. All Rights Reserved.

Hyman Minsky erkannte die Gefahr exzessiver Kreditschöpfung durch die Banken. Er hielt es für eine Torheit der Ökonomie, den Finanzsektor zu ignorieren.


Man stelle sich vor: eine Mischung aus John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter, mit einem Schuss Hayek. Das Resultat ist einer der wichtigsten Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts, der bis heute in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Hyman Minsky (1919–1996).

In den Jahren seit dem Ausbruch der Finanzkrise ist der Name des Amerikaners wieder in der ökonomischen Debatte ­aufgetaucht; als «Minsky Moment» wurde die verhängnisvolle Periode im August 2007 bezeichnet, als das Finanzsystem ­begann, aus den Fugen zu geraten. Angesichts der heutigen Renaissance Minskys geht leicht vergessen, dass er während ­seiner akademischen Karriere ein Randdasein fristete, kaum ernst genommen in der Mainstream-Ökonomie.

Das war ein folgenschwerer Fehler. ­Hyman Minsky befasste sich als Ökonomieprofessor mit dem Finanzsektor und der Rolle, die dieser in der Realwirtschaft spielt. Er zeigte, dass das Finanzsystem ­inhärent instabil ist, zu Übertreibungen und Krisen neigt. Wer seine hauptsächlich in den Siebziger- und Achtzigerjahren verfassten Schriften liest, findet erschreckend präzise Parallelen zu den Ereignissen von 2007 und danach. Lebte Minsky heute noch, könnte er zu Recht ein «Ich habe es ja gesagt» in die Runde werfen.

Der wahre Keynes

Hyman Philip Minsky, 1919 als Sohn jüdischer weissrussischer Immigranten in Chicago geboren, studierte Mathematik und Ökonomie an der University of Chicago. Master- und Doktortitel in Ökonomie erlangte er an der Harvard University, sein Doktorvater war Joseph Schumpeter. Nach dem Studium folgten Lehraufträge an der Brown University sowie in Berkeley. 1965 übernahm Minsky einen Lehrstuhl an der Washington University in St. Louis, den er bis 1990 behielt. Danach forschte er weitere sechs Jahre bis zu seinem Tod am Levy Economics Institute.

Auf einen simplen Satz reduziert war der Kern von Minskys Lehre die Suche nach dem wahren Keynesianismus. Hierzu ein kurzer Exkurs: John M. Keynes löste 1936 mit der «General Theory of Employment, Interest, and Money» in der Volkswirtschaftslehre eine Revolution aus. Das Werk war jedoch in vielen Belangen bruchstückhaft, und Keynes hatte die Absicht, auf etliche Aspekte näher einzugehen. 1937 erlitt er jedoch einen Herzinfarkt und konnte mehrere Jahre kaum arbeiten. Später absorbierten ihn der Weltkrieg und seine Arbeit an der Konzeption des Bretton-Woods-Systems. 1946 starb Keynes; er kam nicht mehr dazu, die General Theory zu verfeinern. Das Werk blieb eine Art Bibel, deren Interpretation anderen überlassen war.

Diesen Part übernahmen John Hicks und später Alvin Hansen sowie Paul Samuelson. Sie erschufen auf Basis der General Theory die sogenannte neoklassische Synthese, die Lehrbuchökonomie, die ab den Fünfzigerjahren zum Mainstream wurde.

Grundannahme der neoklassischen Synthese ist das Equilibriumsmodell, das besagt, dass die Wirtschaft stets ein Gleichgewicht sucht.

«Die populäre, mathematisch hergeleitete Modellierung der General Theory, besonders in der Gestalt des IS/LM-Modells von Hicks (...), tut sowohl dem Geist als auch dem Gehalt von Keynes’ Werk Gewalt an.»

Herzstück der Hicks’schen Interpretation der General Theory war das IS/LM-Modell, das den Markt für Güter und den Markt für Geld im Gleichgewicht darstellt. In diesem Modell ist Geld eine neutrale Grösse, es entsteht exogen, durch die Entscheide der Zentralbank. Der Finanzsektor wird daher weitgehend ausgeblendet respektive als irrelevant betrachtet. Das Finanzsystem ist nichts anderes als ein Mechanismus, um Geld von Sparern zu Investoren zu transferieren.

Vom Wesen der Ungewissheit

Minsky sah in der neoklassischen Synthese eine Perversion von Keynes’ Lehre. «Die mathematisch hergeleitete Modellierung der General Theory transformierte Keynes’ Theorie in ein das Gleichgewicht suchendes System», schrieb er: «Sie tut ­sowohl dem Geist wie auch dem Gehalt von Keynes’ Werk Gewalt an.» Die Ausblendung des Finanzsektors hielt er für eine absurde Abstraktion der Realität.

Minsky verstand sich sehr wohl als Keynesianer, aber für ihn lag der Schlüssel in der Interpretation der General Theory in deren Kapitel 12. Dieses befasst sich mit der Rolle der Spekulation an den Märkten, mit Massenpsychologie und Herdentrieb. In ihrer Versessenheit auf mathematische Modelle hätten Hicks und seine Nachfolger vergessen, wie wichtig für Keynes der ­Begriff der Ungewissheit war und was diese für die Entscheidungsfindung von Investoren bedeute, warnte er.

Schon in den späten Fünfzigerjahren prophezeite Minsky, die populäre Auslegung des «Keynesianismus» werde zu Inflation und finanzieller Instabilität führen. Zwanzig Jahre später sollte sich die Warnung bewahrheiten.

1975, mittlerweile war der populäre Keynesianismus angesichts steigender ­Inflationsraten diskreditiert, publizierte Minsky sein erstes grosses Werk mit dem Titel «John Maynard Keynes». Er sah es als Versuch, die wahre Substanz der General Theory, die Rolle der Finanzbeziehungen in einem fortgeschrittenen kapitalistischen System, ans Licht zu bringen. Die Mainstream-Ökonomie hatte den Finanzsektor wegrationalisiert: Minsky setzte ihn ins Zentrum seiner Arbeit.

1986 legte er mit seinem zweiten Werk, «Stabilizing an Unstable Economy», nach. Darin formulierte er seine Hypothese der finanziellen Instabilität, die zu seinem Hauptvermächtnis werden sollte.

«Ein komplexes Finanzsystem wie das unsere generiert destabilisierende Kräfte. Depressionen sind natürliche Konsequenz des ungehinderten Kapitalismus (...). Das Finanzsystem kann nicht dem freien Markt überlassen werden.»

Nach Minsky – in diesem Punkt folgt er Schumpeter – ist das kapitalistische ­System nicht stabil. Es findet kein Equilibrium; das Gleichgewicht ist bloss eine Station auf dem Weg von einem Ungleichgewicht ins nächste. Der Grund dafür liegt im Verhalten der Marktakteure: Gefühlte Stabilität in der Gegenwart verleitet sie dazu, immer risikofreudiger zu werden – was den Grundstein für die nächste Krise legt. «Stabilität führt zu Instabilität», beschrieb Minsky sein Paradoxon.

Die zentrale Rolle in diesem Prozess spielt der Finanzsektor. Nach Minsky – und Schumpeter – entsteht Geld nicht exogen, sondern endogen, innerhalb des Wirtschaftssystems, «aus dem Nichts», durch die Kreditschöpfung der Banken. Diese befeuert den Gang der Wirtschaft und treibt die Spekulation an.

Minsky unterschied zwischen drei Zuständen in der Finanzierungsstruktur von Unternehmen oder Personen: Abgesichert («Hedge»), Spekulativ und Ponzi. Im ersten Stadium erwirtschaften die Schuldner aus ihrer Arbeit genügend Cashflow, um die Zinslast zu bedienen und die Schulden allmählich abzuzahlen. Im zweiten Stadium reicht der Cashflow nur zur Bedienung der Zinsen, aber nicht zur Amortisation der Schuld. Ein spekulativer Schuldner ist darauf angewiesen, dass er seine Kredite am Fälligkeitstermin durch neue ablösen kann. Das letzte Stadium im ­Zyklus nannte Minsky Ponzi, nach dem Hochstapler Charles Ponzi, der in den Zwanzigerjahren mit einem Pyramidensystem 15 Mio. $ ergaunert hatte. In diesem Stadium reicht der erarbeitete Cashflow des Schuldners nicht einmal mehr, um die Zinsen zu bedienen. Um über Wasser zu bleiben, muss er darauf zählen, dass sich der Wert der Anlagen in seiner Bilanz laufend erhöht.

Mit diesem Modell erklärt sich das Minsky-Paradoxon, wonach Stabilität zu Instabilität führt: In einer gesunden Wirtschaft sind die meisten Kredite an abgesicherte Schuldner verliehen. In der gefühlten Stabilität werden diese jedoch risikofreudiger und nehmen immer mehr Schulden auf, um verheissungsvolle Investitionsprojekte zu realisieren. Die Banken agieren in dieser Phase nicht als Korrektiv, sondern ­legen ihre Risikoscheu ebenfalls ab und vergeben immer freimütiger Kredit. Der Kreislauf treibt sich in die Höhe, bis die Wirtschaft aus zahlreichen spekulativen oder Ponzi-Schuldnern besteht – und höchst fragil geworden ist.

Die Bändigung des Biestes

Irgendwann kippt dann die Stimmung. Schlagartig können sich Schuldner nicht mehr refinanzieren, die Banken frieren die Kreditvergabe ein, die Preise von Vermögenswerten geraten ins Rutschen, Notverkäufe beschleunigen den Prozess. Die deflationäre Schuldenliquidation beginnt.

Für den Ausbruch der Krise ist kein exogener Schock nötig. «Instabilität entsteht durch die Mechanismen innerhalb des Systems, nicht ausserhalb», schrieb Minsky, «unsere Wirtschaft ist nicht instabil, weil sie durch den Ölpreis oder Kriege geschockt wird. Sie ist instabil, weil das in ihrer Natur liegt.» In beiden Extremen des Ungleichgewichts, im Spekulationsboom wie in der deflationären Schuldenliquidation, entsteht kein Korrektiv: Der Boom nährt sich selbst, genauso wie sich die Wirtschaft in der Depression immer weiter in die Tiefe schraubt.

Minsky sah nur eine Möglichkeit, das Biest zu bändigen. In den extremen Phasen des Ungleichgewichts muss der Staat einspringen. In der Depression bedeutet das fiskal- und geldpolitische Stützung, um die selbstzerstörerische deflationäre Schuldenliquidation zu stoppen. Als Korrektiv im Boom sah Minsky vor allem institutionelle Bremsen im Bankensektor: Er empfahl harte Eigenmittelanforderungen für die Banken sowie Beschränkungen in ihrer Gewinnausschüttung. Grossbanken, deren Bilanz eine winzige Eigenkapital­decke aufweist, waren Minsky ein Gräuel. «Ein komplexes Finanzsystem wie das Unsere generiert auf endogenem Weg gefährliche destabilisierende Kräfte», schrieb er, «Depressionen sind eine natürliche Konsequenz des ungehinderten Kapita­lismus.» Und in letzter Konsequenz: «Das Finanzsystem kann nicht dem freien Markt überlassen werden.»

Das Ende der Geschichte

Es erstaunt kaum, dass Minsky mit diesen Ansichten in den Achtzigern keine Chance hatte. Eine Theorie des Ungleichgewichts war damals weltfremd. Neukeynesianer, Neoklassiker, Monetaristen sowie die Anhänger der österreichischen Schule waren sich in der Annahme einig, dass das Wirtschaftssystem – zumindest in der langen Frist – in ein Gleichgewicht strebt. Es war die Zeit der Theorie der rationalen Erwartungen, der effizienten Finanzmärkte, untermauert mit der Präzision mathematischer Modelle. Es war die Zeit der Deregulierungswellen im Bankensektor, gestartet unter Reagan und Thatcher, fortgesetzt in den USA unter Bill Clinton. Es war die Zeit der «grossen Moderation», mit robustem Wachstum und flachen, harmlosen Rezessionen. Sogar die Inflation war besiegt. Es war das «Ende der Geschichte» in der Ökonomie.

Für Hyman Minsky war in dieser Welt kein Platz mehr. Nur ein verlorenes Grüppchen Post-Keynesianer scharte sich noch um ihn. 1996 starb er an Krebs.

Vier Jahre später war Minsky in den «Essays on the Great Depression» des Princeton-Professors Ben Bernanke nur eine Fussnote wert. Ein exzessiver Schuldenaufbau – wie von Minsky gewarnt – sei in einer freien Marktwirtschaft gar nicht möglich, weil das irrationales Verhalten der Marktteilnehmer voraussetzen würde. «Und das», schrieb der spätere Chef der US-Notenbank, «ist kaum vorstellbar.»

Zur selben Zeit begann am US-Häusermarkt ein beispielloser, von Krediten befeuerter Anstieg der Preise. Dasselbe Muster war in Spanien, England, Irland zu beobachten. Überall explodierte die Kreditschöpfung, überall regierte der spekulative Exzess, bereitwillig angetrieben von den Banken. Überall konnten lehrbuchmässig die drei Stufen von Minskys Instabilitätshypothese beobachtet werden. Und dann kam es zum Knall, der beinahe das globale Finanzsystem in die Tiefe riss.
«Hyman Minsky ist der analytischste und überzeugendste aller zeitgenössischen Ökonomen, die in exzessivem Schuldenaufbau die Achillesferse des ­Kapitalismus sehen», schrieb der Ökonom James Tobin 1987 in einer Besprechung von «Stabilizing an Unstable Economy».

Hätte man bloss auf ihn gehört.

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